Lang lebe der Altruismus
Der Verlauf von Kostenkurven zeigt häufig auf, wie Technologien, die bis dahin nur in unseren absurdesten Science-Fiction-Träumen vorkamen, zur Realität werden. Wenn sich die Kostenseite der Waage zu senken beginnt und die Effizienz gleichzeitig nach oben schnellt, kann Innovation endlich disruptiv wirken. In der Tat scheint das mooresche Gesetz – in abgewandelter Form – auf Mikrochips ebenso anwendbar zu sein wie auf die Genomsequenzierung. Das eine geht langsam in den Endspurt, während das andere gerade erst aus den Startlöchern kommt. Erneuerbare Energien? Es kommt drauf an, aber in der jetzigen Phase befinden wir uns wohl irgendwo dazwischen.
In den Anfangstagen mussten erneuerbare Energiequellen jede verfügbare Unterstützung annehmen, um voranzukommen, wozu sich Staatsregierungen oftmals gerne einspannen ließen. Direkte Finanztransfers, Netzvorrang, Steuervergünstigungen, Preiskontrolle. In den letzten zehn Jahren haben erneuerbare Energien jedoch in vielen Fällen bereits Kostenparität erreicht und sind sogar zunehmend kostengünstiger als ihre alten Gegenspieler Kohle, Öl und Erdgas.
Laut Daten der International Renewable Energy Agency (IRENA) sind Bioenergie, Erdwärme, Wasserkraft und Windenergie im Schnitt mindestens so kosteneffektiv wie die billigste fossile Energiealternative – und das ohne finanzielle Unterstützung. Sogar Solarparks ist es gelungen, in den Kostenbereich der Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen1 vorzudringen, und obwohl solarthermische Kraftwerke und Offshore-Windenergieanlagen immer noch im oberen Bereich der Spanne liegen, hat sich ihre Wirtschaftlichkeit in den 2010er Jahren deutlich verbessert. Allein 2018 sind die Durchschnittskosten für solarthermische Kraftwerke um 26 % gefallen, dahinter liegen Bioenergie mit -14 % sowie Solar-Fotovoltaik und Onshore-Windenergie mit jeweils -13 %. Es wird damit gerechnet, dass die Kosten in den meisten Kategorien in den kommenden Jahren noch deutlicher fallen, insbesondere in den Bereichen Wind- und Solarenergie. Sprünge bei bestehenden Technologien, wie beispielsweise der Einsatz effizienterer Turbinen und Solarmodule, bekräftigen diese Einschätzung.
Jetzt müssen wir aber auf den Öltanker im Planschbecken zu sprechen kommen. Die Rohölpreise sind Anfang des Jahres so massiv eingebrochen, dass der Ausverkauf am Aktienmarkt dagegen verblasst. Die Preise stürzten von 70 USD auf unter 20 USD ab und die Rohölsorte WTI notierte sogar kurz im negativen Bereich. Wie kann es 2020 auch anders sein? Den Rückgang der Ölnachfrage aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie haben wir bereits in unserer letzten Veröffentlichung „Der Planet atmet auf“ angesprochen. Vor diesem Hintergrund könnten die Ölpreise in den nächsten 6 bis 12 Monaten schwächeln und werden voraussichtlich im Bereich von 40 bis 50 USD pro Barrel notieren.2 Das wirft die Frage auf, wie die obige Kostenspanne für Alternativen zu fossilen Brennstoffen heute wohl aussieht. Die kurze Antwort lautet: wahrscheinlich gar nicht so viel anders. Öl macht nur etwa 3 bis 4 % des globalen Stromsektors aus und wird daher keine einschneidende Korrektur am allgemeinen Preisniveau verursachen. Darüber hinaus verfolgen Regierungen und Unternehmen eine langfristige Perspektive, wenn sie sich zum Umstieg auf erneuerbare Energiequellen verpflichten, und werden sich durch kurzfristige Kursschwankungen davon nicht abbringen lassen.
Die obige Kostenanalyse hat sicherlich noch mehr Einschränkungen, dennoch scheint es offensichtlich zu sein, dass „grünes“ Denken und Handeln in vielen Fällen kein philanthropisches Unterfangen mehr, sondern schlicht und einfach das wirtschaftlich Richtige und Kluge ist.
Es ist unmöglich, die wirtschaftlichen und sozialen Vorteile einer Reduzierung der Luftverschmutzung oder der Schäden für Natur und Umwelt präzise zu quantifizieren. Aber wir wissen, dass es sie gibt und dass sie vermutlich schwerwiegend sind. Einer Schätzung zufolge belaufen sich die globalen Gesundheitskosten aufgrund von Luftverschmutzung allein durch fossile Brennstoffe auf rund 2,3 Billionen USD, was ein weiteres starkes Argument dafür ist, in sauberere Alternativen zu investieren.3 Wie reagieren politische Entscheidungsträger auf diese Informationen?
Im Dezember 2019 stellte die Europäische Kommission den europäischen „Green Deal“ vor, in dem sie sich das ambitionierte Ziel setzte, die Europäische Union bis 2050 effektiv CO2-neutral zu machen. Um das zu erreichen, will die Kommission ihre Ziele für die Senkung der Treibhausgasemissionen für 2030 auf 50 bis 55 % gegenüber 1990 anheben. Politiker schätzen, dass etwa 260 Milliarden EUR an zusätzlichen jährlichen Investitionen erforderlich sein werden, nur um den Meilenstein für 2030 zu erreichen. Das entspricht etwa 1,5 % des BIPs von 2018 und rechnet sowohl öffentliche als auch private Gelder mit ein.
Die Herausforderung hat jetzt zwei unterschiedliche Dimensionen. Wie wir bereits erwähnt haben, ist diese Chance aufgrund von COVID-19 mehr denn je in greifbare Nähe gerückt, aber die Herausforderung ist umso komplexer geworden. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihr Team müssen jetzt den Staatenverbund durch eine Wirtschaftskrise lenken und gleichzeitig die nächste verhindern. Wir haben jedoch auch unser Vertrauen in Staatsregierungen gesetzt, dass die Staatsoberhäupter, wenn sie sich einmal verpflichtet haben, ihre politische Agenda nicht völlig umkehren werden. Im März ergriff die Kommission tatsächlich den nächsten Schritt und begann damit, den Deal im EU-Recht zu verankern. Ende Mai dieses Jahres gab die Kommission dann ihren Plan für die bevorstehende Erholung bekannt, dessen Grundstein der europäische Green Deal ist.
Man kann durchaus argumentieren, dass die Einführung in bestimmten Bereichen, auf die der europäische Green Deal abzielt, sich angesichts des neuen geschäftlichen Umfelds verzögern könnte. Allerdings gibt es auch unbedingt notwendige Investitionen, die vermutlich von der neuen Normalität abgeschirmt sind und fester Bestandteil der Erholung bleiben werden. Goldman Sachs Global Investment Research (GIR) unterscheidet bei diesen unbedingt notwendigen Investitionen zwischen drei Hauptkategorien: erneuerbare Energien, Stromnetze und Energiespeicher (siehe Tabelle unten4). Wenn man alle anderen Bereiche der politischen Agenda ausklammert, würden sich die Investitionen in diesen Bereichen laut GIR bis 2050 auf insgesamt 2,6 Billionen EUR oder rund 80 Milliarden EUR pro Jahr belaufen. Die meisten dieser Ausgaben werden von Versorgungsunternehmen getätigt; andere Teile der Klimawertkette könnten unserer Ansicht nach jedoch auch ein höheres Gewinnwachstum erleben, denn das gesamte Ökosystem braucht eine Neukalibrierung, um klimaneutral zu werden.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten gehen, was die Planung einer klimabewussten Erholung angeht, offensichtlich mit gutem Beispiel voran. Jetzt besteht die Hoffnung, dass andere Regionen sich anschließen und eine schnellere Konjunkturerholung unterstützen, indem wir uns auf eine grünere Zukunft zubewegen.